Biografie der Enkelin Judith Stein
Judith Stein schreibt über ihre Omi Fanny:
Fanny Fleischmann, geborene Hirsch, meine Großmutter mütterlicherseits, wurde 1877 in eine Familie mit sechs Geschwistern geboren. Sie wuchs in einem kleinen unterfränkischen Dorf namens Frankenwinheim auf und erlebte in ihrer Familie Geborgenheit und Unterstützung.
Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und legte ein lobenswertes Verhalten an den Tag. So wuchs sie zu einer schönen, moralisch gefestigten und religiösen jungen Frau heran.
Sie heiratete Simon Fleischmann, der in Nürnberg ein Getreide- und Futtermittelgeschäft betrieb. Zusammen hatten sie zwei Kinder: Edith und Max.
Leider starben ihr Mann und ihr Sohn früh und so gelang es nur meiner Großmutter Fanny und ihrer Tochter Edith in die USA zu flüchten.
Ich erinnere mich heute an viele Dinge, die Fanny Fleischmanns Charakter und Lebenseinstellung prägten. In meiner Jugend, wenn ich von der Schule nach Hause ging, schaute ich zu meinem Schlafzimmerfenster im dritten Stock hinauf und sah meine Großmutter lesen. Ich fand heraus, dass es ein Buch war, das sie mit in die Vereinigten Staaten gebracht hatte: „Stunden der Andacht“ von Fanny Neuda.
Meine Großmutter hatte Zeiten der Traurigkeit, da sie 1929 ihren Ehemann und ihren Sohn verlor. Es gab auch glückliche Zeiten mit der Familie, bis die Einschränkungen der Nazis gegen die Juden begannen. Ihre Tochter und deren Verlobter Albert, meine Eltern verließen Deutschland 1934. Sie lebten drei Jahre staatenlos und versuchten, in Frankreich und England Arbeit zu finden. Schließlich kamen sie dank eines Verwandten, der sie unterstützte nach New York.
Fanny war zu dieser Zeit noch in Deutschland. Ende 1940 wurde sie im Hinterzimmer des inzwischen geschlossenen Geschäfts in Nürnberg versteckt. Als ihre Reisedokumente Anfang 1941 eintrafen, reiste Fanny im Alter von 64 Jahren mutig allein nach Lissabon, Portugal, und bestieg dort ein Schiff aus dem Ersten Weltkrieg namens Seboney. Es legte einen Zwischenstopp auf den Bermudas ein und kam am 27. März 1941 in New York an.
Ein neues Leben und eine neue Sprache erwarteten sie. Ich glaube, das Gebetbuch war ihr ein Trost durch all das, was sie durchgemacht hatte.
Ich bin 1940 in New York geboren, Fanny half mich großzuziehen. Sie kochte köstliche Gerichte wie Sauerbraten mit Rosinensauce, Zwetschgenkuchen und Gesundheitskuchen. Sie brachte auch ein Gute-Nacht-Geschichtenbuch mit, den Struwwelpeter. Diese Geschichten jagten mir immer Angst ein, wenn sie sie mir vorlas. An jüdischen Feiertagen nahm sie mich mit in die Synagoge. Sie war eine sehr liebevolle Omi, die 23 Jahre lang bei uns lebte.
Eines der wenigen Dinge von wirklich unschätzbarem Wert, die sie aus Deutschland mitbrachte, waren unsere Familienfotos. Sie erleichtern es uns allen, das Wissen über unsere Familie und die Geschichten aus der Vergangenheit in Verbindung zu bringen.
Sie war das geliebte Oberhaupt unserer Familie Hirsch in New York und so versammelten wir uns jedes Jahr, um Fannys Geburtstag zu feiern. Ihre Urenkelin wurde nach ihr Melissa Tifanny genannt.
Ich bedanke mich für die Gelegenheit einen Teil von Fannys Leben zu würdigen.
Mögen wir alle in Frieden leben.
Judith Stein