Rede von Bernd Siegler zur Stolpersteinverlegung am 30. April 2024
Wer waren Dina und Ludwig Schloss und ihre drei Töchter Gerda, Ruth und Käthe Annemarie, an die ab heute in Nürnberg fünf Stolpersteine hier vor der Rankestraße 68 erinnern?
Sie waren lange Zeit eine ganz normale jüdische Familie, fest verankert in Deutschland und hier in Nürnberg. So festverankert, dass Dina, Ludwig und ihre älteste Tochter Gerda ihren Hobbys, Tennis und Schwimmen, nicht in einem der jüdischen Sportvereine hier in Nürnberg nachgingen, sondern sich ganz bewusst 1930 und 1932 einem bürgerlichen, nicht konfessionell gebundenen Sportverein anschlossen, dem 1. FC Nürnberg.
Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an die Macht kamen, begann in Deutschland unmittelbar danach und in einem atemberaubenden Tempo die Ausgrenzung, Enteignung und Vertreibung der Juden und später deren systematische Verfolgung und Ermordung.
Dass der 1. FC Nürnberg in einem Akt des vorauseilenden Gehorsams Dina, Ludwig und Gerda Schloss schon am 30. April 33 von der Mitgliederliste strich, nur weil sie Juden waren, das war für die Familie ein einschneidendes Erlebnis. Eine nicht staatliche Organisation hatte sie, ohne dass es eine entsprechende Anordnung gab, über Nacht ausgegrenzt.
Wer waren nun Dina und Ludwig Schloss und ihre drei Töchter Gerda, Ruth und Käthe Annemarie und was ist aus ihnen geworden?
Der Kaufmann Ludwig Schloss wurde am 30. Juli 1889 in Nürnberg als Sohn einer jüdischen Ludwigsburger Kaufmannsfamilie geboren. Er besuchte das Königliche Alte Gymnasium Nürnberg (heute Melanchthon-Gymnasium), war aktives SPD-Mitglied und hatte sich freiwillig für den Ersten Weltkrieg gemeldet. Sechs Jahre lang war er in französischer Gefangenschaft und kam erst 1920 zurück.
Seine Frau Dina, die er am 2. August 1920 in Ludwigsburg heiratete, war am 26. Dezember 1893 in Ludwigsburg geboren worden. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges hatte sich die Grundschullehrerin pazifistisch engagiert.
Dina und Ludwig Schloss zogen in die Rankestraße 68 und hatten drei Töchter: Gerda, Ruth und Käthe Annemarie. Die Familie hatte eine Köchin, ein Kindermädchen und einen Chauffeur, im Musikzimmer standen zwei Flügel.
„Wir waren wohlsituiert und lebten recht komfortabel in unserem Haus in Nürnberg. Zusammen mit meinen Schwestern verbrachte ich hier glückliche, unbeschwerte Kinderjahre“, so Käthe Annemarie, die jüngste der drei Töchter
Ludwig Schloss besaß eine Papier- und Pappegroßhandlung in der Fürther Straße. 1933 gewann er einen Verleumdungsprozess gegen Julius Streicher. Daraufhin ließ dieser das Haus in der Rankestraße mit der Bildunterschrift »Der Jude Schloss hat am 1. Mai nicht geflaggt.« in seinem antisemitischem Hetzblatt Der Stürmer abbilden. „Von dieser Zeit an begannen wir, mehr und mehr die Schikanen der Nationalsozialisten zu spüren“, schreibt Käthe Annemarie.
Am 3. Dezember 1934 zog die Familie nach Stuttgart, dort gab es eine Filiale der Firma von Ludwig Schloss. Tochter Ruth: „Meine Eltern waren in Deutschland noch nicht Zionisten. 1933 sagten sie: ‚Wie lange kann sich dieser Nazi-Unsinn halten?‘ Doch nach einem Jahr war der ‚Spuk‘ noch immer nicht vorbei“.
Und Tochter Gerda erinnerte sich: „Für meine sehr deutschen Eltern war der Schock natürlich groß, als Hitler an die Macht kam. Doch sie zogen die richtige Schlussfolgerung daraus: Wenn so etwas in Deutschland passieren kann, kann es auch woanders geschehen. Deshalb kommt nur Eretz Israel (das Land Israel; Anm. d. Verf.) in Frage.“
Die älteste Tochter Gerda wurde Ende April 1936 nach Palästina geschickt, der Rest der Familie kam eineinhalb Jahre später nach. Ludwig Schloss hatte in Nürnberg Haus und Geschäft verkauft und mit dem Geld etwas Land und ein Häuschen in Palästina erworben. Er wurde Direktor einer landwirtschaftlichen Kooperative in Kfar Schmaryahu im Bezirk Tel Aviv, seine Frau arbeitete in der Kooperative als Landwirtin.
„Meine Eltern mussten sehr hart arbeiten. Sie wollten die Wirtschaft des Landes von unten aufbauen durch Landwirtschaft und Hühnerhaltung“, so Tochter Ruth.
Ludwig schloss starb in Kfar Schmaryahu 1957, seine Frau Dina 1972.
Und die drei Töchter?
Gerda Schloss wurde am 18. Juni 1921 in Nürnberg geboren. Sie hatte schon in Nürnberg ihre Liebe zum Klavier entdeckt, war auf dem Sprung, eine Karriere als Pianistin einzuschlagen. Nach Auseinandersetzungen mit Julius Streicher zog die Familie Ende 1934 nach Stuttgart. Dort schickte Ludwig Schloss seine älteste Tochter zur zionistischen Jugendbewegung Habonim.
Im April 1936 schickten die Eltern die 14-jährige Gerda mit dem Schiff nach Palästina. Dort ging sie in das Kinder- und Jugenddorf Ben Shemen und lernte Landwirtschaft.
„Ben Shemen war damals eine jüdische Insel im arabischen Land. Man konnte die Uhr danach stellen, so regelmäßig wurde abends auf uns geschossen. Die Umstellung von einem wohlbehüteten bürgerlichen Elternhaus zu dieser neuen Realität war natürlich enorm“, so Gerda später.
Als ihre Eltern nachkamen und in Kfar Shmaryahu Land kauften, musste auch Gerda aushelfen. Sie hieß nun mit Vornamen »Chaya« und wirkte am Aufbau eines Kibbuz in Zentralisrael mit. Sie arbeitete dort 25 Jahre in der Landwirtschaft und heiratete 1943 den Bibliothekar Shlomo Marcus. Ein Jahr später kam Tochter Esther zur Welt. 1946 wurde die Ehe geschieden. Sechs Jahre später heiratete sie Daniel Arbel, einen Landwirt und Bibliothekar, mit ihm hatte sie drei Kinder: Avital, Naomi und Itai.
In den 1960er-Jahren nahm sie ihre 1936 abgebrochenen Klavierstudien wieder auf. Chaya Arbel traf mit dem Kibbuz eine Vereinbarung: „Ich lehrte Kindern Klavierspielen und dafür bekam ich einen Wochentag frei zur Ausbildung. Morgens um vier Uhr fuhr ich mit dem Milchauto nach Tel Aviv und hatte Klavier- und Harmonie-, sowie Kompositionsunterricht. Am Abend kehrte ich per Anhalter wieder nach Hause zurück.“
Als andere Kibbuze bei ihr anfragten, hörte sie mit 45 Jahren mit der Landwirtschaft auf, studierte bei führenden Pianisten, gründete eine Musikschule und entwickelte Schönbergs Zwölftonmusik weiter. Chaya Arbel wurde eine der größten modernen Komponistinnen Israels. Sie komponierte 30 Solo- und Kammerstücke sowie fünf symphonische Werke.
Chaya Arbel starb am 14 Dezember 2006 im Alter von 85 Jahren in Israel.
Ruth Schloss wurde am 22. November 1922 in Nürnberg als zweitälteste von drei Töchtern der Kaufmannsfamilie Schloss in Nürnberg geboren.
Die ersten Schuljahre besuchte sie die Nürnberger Holzgartenschule, anschließend ein Mädchengymansium. Nach Auseinandersetzungen mit Julius Streicher zog die Familie im Dezember 1934 nach Stuttgart, wo Ruth Schloss eine Waldorfschule besuchte.
Ende April 1936 emigrierte die ein Jahr ältere Schwester Gerda nach Palästina. Ruth und ihre jüngere Schwester Käthe Annemarie kamen mit den Eltern eineinhalb Jahre später nach.
Von 1938 bis 1942 besuchte Ruth Schloss die Bezalel Kunstakademie in Jerusalem. Nach ihrem Abschluss illustrierte sie Bücher und studierte von 1949 bis 1951 an der Académie de la Grand Chaumière in Paris.
Danach kehrte sie nach Israel zurück und heiratete den Vorsitzenden der Hashomer Hatzair Arbeiterpartei, Benjamin Cohen. Sie bekam die beiden Töchter Raya und Nurit und engagierte sich in der Kommunistischen Partei Israel.
Von 1960 an hatte Ruth Schloss mehr als 20 Jahre lang ein Atelier in Jaffa. In ihren Zeichnungen und Gemälden thematisierte sie die Traumata des Holocausts und das menschliche Leid in den Kriegen im Nahen Osten. Ihre Bilder wurden oft mit den Werken von Käthe Kollwitz verglichen. 2008 hatte sie in der Kunsthalle Nürnberg unter dem Titel „Malen – meine zweite Muttersprache“ eine große Retrospektive.
Ruth Schloss starb am 6. Juli 2013 in Kfar Shmaryahu.
Käthe Annemarie Schloss wurde am 9. Februar 1927 in Nürnberg geboren. Sie ging in Stuttgart auf die Waldorfschule. 1937 emigrierten die Eltern mit ihr und ihrer Schwester Ruth nach Palästina.
Sie hieß nun Malka mit Vornamen und wuchs in dem Kibbuz in Kfar Schmaryahu im Bezirk Tel Aviv auf. 1946 ging sie nach Jerusalem, um Musik zu studieren. Sie schloss sich der paramilitärischen zionistischen Untergrundorganisation Hagana an und wurde zu militärischen Einsätzen herangezogen. Die Belagerung Jerusalems erlebte sie als einer der ersten weiblichen Offiziere aus nächster Nähe mit.
1948 heiratete sie in Jerusalem Hans Wolfgang Schmuckler. Beide lebten danach in Palästina und bekamen zwei Söhne, Amnon und Oren. Doch ihren Mann zog es nach Europa zurück. Da ihn dort auch bessere Berufsaussichten erwarten, willigte Malka schließlich ein, ihm zu folgen. Als Frau um die vierzig kehrte sie zurück nach Deutschland in ein fremdes Land. 1997 erschien ihre Autobiografie „Gast im eigenen Land: Emigration und Rückkehr einer deutschen Jüdin“.
Malka Schloss-Schmuckler starb 2008 in Berlin.